Das Bild, das
keiner sehen sollte

Das Bild das keiner sehen sollte

Vor sechzig Jahren verkündete US-Präsident John F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner.“ Fotojournalist Jochen Blume schoss damals das Bild der Rede, das um die Welt ging. Sein bestes Foto vom Kennedy-Besuch allerdings wurde nie veröffentlicht. Es passte nicht zur Jubelstimmung.

Es gab keine Direktive. „Bild“-Chefredakteur Peter Boenisch musste nichts sagen. Mir war klar, was ich am 26. Juni 1963 zu tun hatte. Seit Tagen stand es in den Zeitungen geschrieben: Jubel, Jubel, Jubel. John F. Kennedy ist in der Stadt und wird vom Balkon des Schöneberger Rathauses sprechen. Anlass war der 15. Jahrestag der Berliner Luftbrücke und die damit verbundene Reaktion der Westalliierten auf die sowjetische Berlin-Blockade.

Aber viel wichtiger noch: Es war der erste Besuch eines US-Präsidenten nach Errichtung der Mauer. Und ausgerechnet Kennedy, der in den Augen vieler zu zurückhaltend auf die Teilung Berlins reagiert hatte, wurde jetzt von jubelnden West-Berlinern mit Konfetti, Luftschlangen und Fähnchen empfangen. Schließlich waren das Erscheinen Kennedys und die Eskorte durch die geteilte Stadt zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, und Bundeskanzler Konrad Adenauer eine erneute Bestätigung der Solidarität und ein Schaulaufen für Demokratie und freie Marktwirtschaft.

Ich arbeitete zu der Zeit als Fotograf beim Springer-Verlag und sollte die Bilder zu diesem Großereignis schießen. Wochenlange Berichterstattungen, Sonderausgaben und selbst längst eingestellte Gazetten wie die „Berliner Illustrirte“ gingen zu Ehren dieses Staatsbesuches wieder in Druck.

Auf dem Lastwagen durch die Stadt

Kennedy landete um 9.45 Uhr am Flughafen Tegel. Ich war spät dran, weil ich noch meine Kameraausrüstung aus der Redaktion holen musste. Mit zwei Kameras um den Hals und jeweils einer über der Schulter sprang ich am Flughafen aus meinem Wagen und schaffte es noch rechtzeitig auf das Rollfeld. Kennedy wurde bereits von Fotografen belagert. Ich musste mir meinen Weg durch die Menge bahnen, bis ich schließlich zwei Meter vor dem US-Präsidenten stand. Zwei, drei Fotos. Das war’s. Kurz darauf wurden wir zum Pressewagen gebeten. Es war ein umgebauter Lkw auf dessen Ladefläche Sitze angebracht waren. Darauf hatten jetzt rund dreißig Fotografen Platz genommen. Dem Lastwagen folgten 23 Polizeifahrzeuge. Direkt hinter uns fuhr die offene Limousine mit den Staatsmännern.

Kennedy links, Brandt, dann Adenauer. So standen sie im Cabrio. Joviales Winken, Lächeln und Jubelchöre aus der Bevölkerung, die mehrreihig die Straßen säumten. Zwei Frauen stürzen aus der Menge auf die Straße, um dem Präsidenten die Hand zu schütteln. Kinder saßen auf den Schultern der Väter. Jugendliche kletterten auf Laternen. Feiertagsstimmung in West-Berlin. Mehrere Betriebe hatten angekündigt, für den Nachmittag zu schließen, damit die Belegschaft am Ereignis teilnehmen konnte. 1,5 Millionen Menschen, hieß es später, seien unterwegs gewesen.

Kennedy selbst wirkte, überwältigt von dem Empfang, in seiner Rolle als Repräsentant der freien Welt eher schüchtern, zuweilen verunsichert. Die meiste Zeit konnte er die Anspannung gut kaschieren, jedoch nicht während der gesamten Fahrt. Die Stirn lag regelmäßig in Falten, der Blick war oft gesenkt und das Lächeln verkrampft.

„Ich bin ein Berliner“

„Krieg um Berlin“, das waren spätestens seit dem Tag, an dem sich Panzer am Checkpoint Charlie gegenübergestanden hatten, geflügelte Worte. Sowohl in der Bevölkerung als auch bei uns Fotojournalisten auf dem Pressewagen. Die Formulierung erinnerte an die Frage von 1939, ob es einen „Krieg um Danzig“ geben werde. Dieser besiegelte schließlich den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Auf mehrmaligen Wunsch von Willy Brandt war der US-Präsident jetzt nach Berlin gekommen. Brandt war sichtlich bemüht, Konversation mit dem Präsidenten zu machen, der wirkte aber nicht immer gedanklich anwesend. Adenauer hingegen schien sich kaum für den amerikanischen Gast zu interessieren. Das angespannte Verhältnis zwischen dem jungen Kennedy und dem alten Adenauer, die dem Politikstil des jeweils anderen nicht viel abgewinnen konnten, war nicht zu übersehen. Trotzdem hatte auch Adenauer um Kennedys Anwesenheit gebeten, allerdings ausschließlich in Bonn. Der Besuch in Berlin barg neues Konfliktpotential, da es die engere Beziehung zwischen Kennedy und Brandt unterstrich und zugleich den SPD-Kanzlerkandidaten innenpolitisch stärkte.

12.50 Uhr. Ankunft am Schöneberger Rathaus. Kurz vor Kennedys Rede war uns Fotojournalisten trotz Absprache untersagt worden, auf den Balkon des Rathauses zu steigen. Uns war allen klar, dass Kennedys Kundgebung vor einer halben Million Menschen das Bild liefern würde, auf das es später in den Redaktionen ankäme. Den ganzen Tag schon hatte ich mich mit meinen vier Kameras bei brütender Hitze abgemüht und schleppte ein 600-mm-Superteleobjektiv mit mir herum. Jetzt bescherte mir dieser schwere Prügel unerwartet einen unglaublichen Vorteil: Ich war der Einzige, der solch eine lange Brennweite dabei hatte. Aus der jubelnden Menschenmenge heraus und aus gut zwanzig Metern Entfernung schoss ich mit der höchstmöglichen Auflösung mein wohl bekanntestes Bild: Kennedy bei seiner Ansprache an die deutsche Bevölkerung, die er mit den Worten „Ich bin ein Berliner“ resümierte. Beim „ich“ drückte ich ab. Eine eindrucksvolle Rede und ein Kennedy, der im Vergleich zu den Minuten zuvor nicht wiederzuerkennen war: souverän, weltmännisch, charismatisch.

Das andere Bild

Mein bestes politisches Bild hatte ich allerdings schon drei Stunden zuvor geschossen – auf dem Rollfeld des Flughafens Tegel, kurz bevor ich aufgefordert wurde, auf den Pressewagen zu steigen.

Es war ein Bild, das später keiner zu Gesicht bekommen sollte: Der US-Präsident John F. Kennedy, der mächtigste Mann der Welt, umringt von Adenauer, Brandt und dem französischen Stadtkommandanten Edouard Toulouse, steht gekrümmt, mit verschränkten Armen, faltigem Gesicht und in sich zusammengesackt im Kreis vor den Politikern. Alle Blicke ruhen auf dem jungen US-Präsidenten. Es wirkt, als laste der gesamte Erwartungsdruck einer Nation auf seinen Schultern und auf dem von chronischen Schmerzen ohnehin geplagten Rücken. Buckelig, leicht kauernd, steht Kennedy inmitten der Funktionäre.

Noch kurz vor seiner „Ich bin ein Berliner“-Rede erscheint der Präsident nicht wie ein großer Staatsmann, sondern wirkt eher ratlos und verunsichert. Ein kaum vorstellbarer kontrast zu den feiernden West-Berlinern, die den US-Präsidenten als Heilsbringer in den kommenden Stunden mit Ovationen begrüßen sollten. Der vom Erwartungsdruck geknickte Kennedy ist das beste politische Bild, das ich je gemacht habe. Das sah auch Chefredakteur Boenisch so. Nur wurde es nie gedruckt – es passte einfach nicht zur Jubelstimmung.
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